VATM: Welche Ziele hatten damals Priorität?
Prof. Klaus-Dieter Scheurle: Bei der Formulierung des Telekommunikationsgesetzes (TKG) wurden wir getrieben von der Frage: Was braucht ein neues Unternehmen, das erfolgreich im Markt agieren will? Dabei ging es natürlich zunächst um das Interconnection-Thema. Welche Netzzugänge wurden benötigt, wie konnte der Zugang zu Nummerierung u. ä. gelingen? Bewusst wollten wir den jungen Unternehmen damals auch eine ausreichend lange Vorbereitungszeit verschaffen. Das TKG trat im Sommer 1996 in Kraft, die komplette Öffnung der Märkte erfolgte erst am 1. Januar 1998. In der Arbeit der Regulierungsbehörde ging es ab 1998 darum, den gesetzgeberischen Willen um- und durchzusetzen und die Vereitelung des Netzzugangs zum Beispiel durch das Verlangen unberechtigter Kosten zu verhindern. So ist es einer Vielzahl von Unternehmen gelungen, sich auf die liberalisierte Welt vorzubereiten und dann Marktanteile zu erobern.
VATM: Was waren zentrale Faktoren für den Erfolg? Was hat man nicht vorhersehen können?
Prof. Klaus-Dieter Scheurle: Das, was einen massiven Wettbewerbsschub in Deutschland ausgelöst hat, war Call-by-Call (CbC). Die sogenannte Vorvorwahl entwickelte sich zu einer wichtigen Erfolgsgeschichte. Dass dies gelingen konnte, lag an der Ausgestaltung des TKG. Es erlaubte Unternehmen, an den Markt zu gehen ohne einen extrem zeitraubenden und sehr kostspieligen bundesweiten Infrastrukturausbau. Wer über eine Vermittlungsstelle verfügte, konnte seine CbC-Dienste in ganz Deutschland anbieten. Und dies wurde intensiv genutzt. Leider waren manche CbC-Anbieter zu sehr auf Umsatzwachstum fokussiert und zu wenig auf die Kosten. Marktaustritte schon in den ersten Jahren waren die Folge.
VATM: Damals haben Sie die richtigen Grundlagen gestellt, damit sich eine junge Branche mit enormer Dynamik entwickeln konnte. Wo stehen wir heute in Deutschland?
Prof. Klaus-Dieter Scheurle: Der durch die Regulierung gewährleistete freie Marktzugang zur Schaffung und Aufrechterhaltung von Wettbewerb in den Märkten der Telekommunikation ist bis heute der richtige Ansatz. Denn ein wettbewerbliches Marktumfeld steht immer im Interesse der Nutzer – nicht nur durch angemessene Preise, sondern auch durch den hier gegebenen Anreiz zu Innovationen. Heute sehen wir im Vergleich zu früher gesteigerte Kundenerwartungen im Hinblick auf die Abdeckung (coverage) durch Mobilfunknetze sowie besonders bezüglich Bandbreiten. Die Bandbreiten haben im Festnetz, aber gerade auch im Mobilfunknetz, inzwischen Dimensionen erreicht, die vor 25 Jahren nicht vorstellbar waren. Das zeigt die Innovationskraft, die im Telekommunikationsmarkt entstanden ist. Hohe Bandbreiten werden in der modernen digitalen Welt allerdings auch gebraucht bzw. nachgefragt, was wiederum hohe Investitionsbedarfe in Netze und Anwendungen auslöst. Kluges unternehmerisches Handeln und eine Regulierung, die auf diese Anforderungen Rücksicht nimmt, ohne den Blick von der Aufrechterhaltung des wettbewerblichen Umfeldes zu wenden, schaffen den notwendigen Rahmen in dieser Situation. In diesem Zusammenhang sehe ich die Konsolidierungen der letzten Jahre beim Kabel und beim Mobilfunk als eine positiv zu bewertende Marktentwicklung. Angesichts der heutigen und künftigen regulatorischen Herausforderungen brauchen Gesetzgeber und Regulierer Einsicht und Weitsicht, um die vor über 25 Jahren zu Recht gesetzten Ziele weiter zu verfolgen – und manchmal auch eine glückliche Hand!
Die Liberalisierung des TK-Marktes hat Klaus-Dieter Scheurle wie kaum ein anderer verfolgt und begleitet. Zunächst als Büroleiter des letzten Postministers Wolfgang Bötsch, dann als Leiter der Grundsatzabteilung im Bundesministerium für Post und Telekommunikation (BMPT) und Leiter der Abteilung Regulierung arbeitete er an den wichtigsten TK-Gesetzgebungsverfahren mit. Von Januar 1998 bis 2000 war Scheurle erster Präsident der neu gegründeten Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP), der heutigen Bundesnetzagentur.